Vor den deutschen Gerichten ist die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Gesetzesanwendungen in Einzelfällen gang und gäbe. Die französischen Gerichte führen eine solche Prüfung erst seit 2013 regelmäßig durch und wurden dafür vielfach kritisiert. Isabelle Neise vollzieht diese Entwicklung nach und deutet sie in grundsätzlicher und vergleichender Perspektive.
Seit einer viel diskutierten Entscheidung aus dem Jahr 2013 überprüft die Cour de cassation die Verhältnismäßigkeit von Gesetzesanwendungen in Einzelfällen. Was aus Sicht der deutschen Rechtswissenschaft nicht ungewöhnlich scheint, stellte in der französischen Rechtsprechung ein Novum dar und ist Ausdruck der dynamischen Entwicklung sowie des Bedeutungszuwachses der Gerichte in der V. Republik. Die Einführung dieses Kontrollmechanismus macht Sollbruchstellen des Institutionen- und Gerichtsgefüges sichtbar: In der Diskussion über die konkrete Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die obersten Gerichte kulminieren schwelende Konflikte über die Stellung und Aufgabe von Richtern und Gerichten sowie die überformende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Isabelle Neise erschließt nicht nur diese Grundsatzprobleme des französischen Rechtssystems - sie zieht zudem Vergleiche mit der deutschen Diskussion über die Verhältnismäßigkeitsprüfung von gebundenen Verwaltungsentscheidungen.
Inhaltsübersicht:
A. Einführung
I. Die konkrete Verhältnismäßigkeitsprüfung - Mosaikstein in den Reformbestrebungen der französischen Justiz
II. Zielsetzungen der Arbeit
III. Begriffliche Grundlagen
IV. Gang der Untersuchung
B. Bestandsaufnahme der Rechtsprechung der Cour de cassation und des Conseil d'Etat zu der konkreten Verhältnismäßigkeit
I. Die konkrete Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Cour de cassation
II. Die konkrete Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den Conseil d'Etat
III. Résumé - gegenläufige Entwicklungen in der Rechtsprechung der Cour de cassation und des Conseil d'Etat zu der konkreten Verhältnismäßigkeit
C. Fundamentale Kritikpunkte an der konkreten Verhältnismäßigkeitsprüfung
I. Rechtsstaatliche Konfliktpunkte
II. Unvereinbarkeit der konkreten Verhältnismäßigkeitsprüfung mit dem erklärten Auftrag der Cour de cassation
III. Résumé - Unterschiedlichkeit der Reaktionen auf die konkrete Verhältnismäßigkeitsprüfung der Cour de cassation und des Conseil d'Etat
D. Justizkulturelle Zusammenhänge
I. Historische Hintergründe
II. Selbstbehauptung der Cour de cassation im innerstaatlichen Gerichtsgefüge
III. Anpassung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
IV. Résumé - Festigung der verfassungsinstitutionellen Rolle der Cour de cassation in der V. Republik
E. Ausblick: Vergleichende Perspektiven
I. Auswirkungen der konkreten Verhältnismäßigkeitskontrolle auf die Verfassungsmäßigkeitskontrolle des Conseil constitutionnel - zu erwartende Konkretisierung der Prüfungsweise?
II. Vergleich zu der deutschen Diskussion über die Verhältnismäßigkeitskontrolle gebundener Verwaltungsentscheidungen
F. Zusammenfassung in Leitsätzen