Sven Müller weist gegen die Wissenschaftsgeschichtsschreibung nach, dass weder Aristoteles noch Newton die Ursache der Gravitation mit einer in der Materie liegenden Kraft identifizierten, sondern Newton mit einem als feinstoffliche Substanz verstandenen Gott, Aristoteles mit einer immateriellen Substanz. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass die Thesen des Aristoteles durch die moderne Physik ungeprüft und unwiderlegt geblieben sind, da sie fälschlich mit spätmittelalterlichen Positionen gleichgesetzt wurden.
Gemäß einhelliger Meinung der Wissenschaftsgeschichtsschreibung markieren Newtons
Principia von 1687 die Ablösung der aristotelischen Physik durch die moderne Naturwissenschaft. Sven Müller weist dagegen nach, dass weder Aristoteles noch Newton die Ursache der Gravitation mit einer in der Materie liegenden Kraft identifizieren, sondern Newton unter Rückgriff auf die Lehre der Stoa mit einem als feinstoffliche Substanz verstandenen Gott, Aristoteles hingegen mit einer immateriellen Substanz. Die Analyse der Rezeptionsgeschichte zeigt: Der von Newton bekämpfte Gegner ist nicht die genuin aristotelische Lehre, sondern ein von Duns Scotus und Ockham materialistisch umgedeuteter Aristoteles. Während Aristoteles den physikalischen Körpern ausschließlich ein intrinsisches passives Prinzip der Bewegung zuspricht, vertreten Scotus und Ockham die Ansicht, dass die physikalischen Körper über ein aktives Prinzip der Bewegung verfügten, das heißt, sich selbst bewegten. Ausgangspunkt dieser materialistischen Aristoteles-Auslegung ist ein Aspekt der Modifikation der aristotelischen Lehre vor dem Hintergrund der christlichen Schöpfungslehre durch Thomas von Aquin. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass die Thesen des Aristoteles durch die moderne Physik ungeprüft und unwiderlegt geblieben sind, da sie fälschlich mit spätmittelalterlichen Positionen gleichgesetzt wurden. Er eröffnet so ein neues Feld gemeinsamer geistes- und naturwissenschaftlicher Forschung.
Inhaltsübersicht
1. Aristoteles' Lehre über die naturgemäße Ortsbewegung unbeseelter Körper und die Interpretation dieser Lehre bei den antiken Aristoteles-Kommentatoren
2. Die Interpretation der aristotelischen Lehre über die naturgemäße Ortsbewegung unbeseelter Körper bei Thomas von Aquin – ein folgenreicher Aspekt der Umdeutung der aristotelischen Lehre vor dem Hintergrund der christlichen Schöpfungslehre
3. Die radikale Umdeutung der aristotelischen Lehre über die naturgemäße Ortsbewegung unbeseelter Körper bei Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham – eine unbemerkte Wende zum Materialismus
4. Die Rezeption der aristotelischen Lehre über die naturgemäße Ortsbewegung unbeseelter Körper im Zeitalter der Renaissance in Vermittlung durch Ockhams und Scotus' Aristoteles-Auslegungen
5. Die Überwindung der vermeintlich aristotelischen Lehre über die naturgemäße Ortsbewegung unbeseelter Körper durch Newton – Versuch einer Überwindung des Materialismus unter Rückgriff auf stoische Naturphilosophie